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Russlandreise


21. August 2021

Unsere Vorsitzende Swetlana berichtet hier ausführlich über ihre Reise nach Wladikawkas ins „Tierheim der Glückliche“ zu Aleksey – nehmen Sie sich gerne ein paar Minuten Zeit, um mehr zu erfahren über den Alltag im Tierheim im August 2021 – eine Zeit in der auch noch die Staupe in unserem Tierheim grassierte.

Meine Russlandreise - Realität mit Herz und Schmerz

Nun bin ich schon wieder eine Woche in Deutschland - eine Woche, in der ich mir vornahm, die Tage meines Aufenthaltes in Russland zu reflektieren, um euch ein Bild von dort zu geben. Aber auch jetzt habe ich das Geschehene noch nicht richtig verarbeitet und merke, dass ich ausweiche, wenn ich gefragt werde, wie war es denn eigentlich in Russland? Mit diesem Brief möchte ich euch nun erzählen, wie die Reise und der Aufenthalt waren – vielleicht begreife ich dadurch selbst auch leichter, was eigentlich alles geschehen ist in dieser Zeit.

Meine Anreise…

Zunächst war meine Anreise nach Russland natürlich von Corona geprägt. Schon die Planung dazu war erschwert durch ein Visum, dass im besten Falle nach zwei Monaten gewährt wird, so einigen Tests im Vorfeld, offiziellen Papieren, ständigem Fieber messen, Behörden Anmeldungen, Umwegen im Flugverkehr und einigem mehr.

In Domodedovo (so heißt der Flughafen in Moskau) trugen die Menschen zwar Masken, aber lieber unter dem Kinn – nun ja ich habe das wohl alles recht gut überstanden und meine Impfung hält, was sie verspricht. Später in Wladikawkas angekommen, habe ich mir über Corona gar keine Gedanken mehr gemacht – hier war ich nämlich weder shoppen, noch habe ich mir Sehenswürdigkeiten angeschaut. Mein Fokus war das Tierheim und hier spielte Corona keine Rolle! Da war Staupe! Für die Tiere eine große Bedrohung! Im Tierheim bei Aleksey war die Staupe unser Covid – unsere tägliche Realität, die mich von der ersten Stunde in Wladikawkas bis zur letzten Minute in dieser Stadt völlig eingenommen hat.

Eigentlich war ich nun schon bereits zum dritten Mal vor Ort in Wladikawkas. Die ersten zwei Male durften wir „Helden“ sein. Wir haben Hunde gerettet und dabei 36 Hunde und einmal sogar 82 Hunde (!!!) aus der städtischen Tötung rausgeholt. Das ist heldenhaft – und das Gefühl war großartig: wir sind Retter! Gerettet haben wir die lieben Fellnasen, gepflegt und gehegt und dann bin ich wieder nach Hause geflogen, mit der guten Absicht von Deutschland aus das richtige für diese Hunde zu tun. Auch damals gab es schon verletzte Hunde, die von Aleksey liebevoll aufgepäppelt wurden – aber Alekseys Schultern haben das alles getragen und gemeistert.

Dieses Mal war es anders! Ich habe keinen Hund gerettet - ich war keine Heldin! Nein, ich war ein Segment, ein Teilchen, dass einen sehr schlimmen Teil der Staupe-Epidemie mitgetragen hat.

Im Tierheim grassierte die Staupe

Angekommen in Wladikawkas, hat mich diesen Sommer kein höflicher, fröhlicher Mann in strahlend weißem Hemd empfangen, sondern ein sehr müder Mann – zwar in sauberen Arbeitsklamotten - der versucht hat müde zu lächeln und dabei noch gefasst zu wirken. Dass wir sofort ins Tierheim fahren, war klar - die 30 Stunden, die ich bereits unterwegs war, spielten keine Rolle. Angekommen im Tierheim, spüre ich zunächst noch dieses Glücksgefühl. Ich sehe die Hunde, sehe das herrliche Grün des Geländes, sehe die Früchte auf den Bäumen – eigentlich ist es doch wie immer: zwar ein armes Ambiente, aber das gewaltig große Paradies von Aleksey und seinen Hunden.

Das war aber der Blick eines Menschen, der (noch) die tatsächliche Situation nicht kennt. Zunächst gehe ich also in das Behandlungszimmer, werde von Aleksey über die Vorsichtsmaßnahmen unterrichtet, sehe Tatjana seine Helferin. Wir begrüßen uns sehr höflich, die Stimmung ist jedoch gedämpft. „Was machen wir jetzt?“- frage ich erwartungsfroh. „Soll ich in einer Voliere saubermachen oder vielleicht den Hof kehren?“ - Nein, dafür haben wir keine Zeit wird mir gesagt, wir füttern alle Hunde und beginnen danach sofort wieder mit der Behandlung!

Das wars! Das ist unsere Aufgabe jeden einzelnen Tag in diesen Wochen! Kurz Hunde füttern und behandeln, behandeln, behandeln und wieder behandeln! Jeden Tag geht das so bis 4 Uhr morgens oder auch schon mal 5 Uhr. Eigentlich hätte es sich auch gar nicht gelohnt „nach Hause“ zu fahren, aber in der Situation gab es einfach keinen Platz zum Schlafen im Tierheim.

 

Aleksey und Tatjana sind bereits an der Grenze der Belastung

Ein paar Stunden nach meiner Ankunft fangen Aleksey und Tatjana endlich an zu sprechen. Ich merke erst jetzt, wie fertig Aleksey eigentlich ist - seine Hände sind geschwollen von etlichen Bissen der Hunde, seine Nerven sind angespannt wie Drahtseile, die gleich zu reißen drohen. Tatjana ist ebenfalls extrem bleich und erzählt stockend, dass sie auf ihrer eigentlichen Arbeit einschläft. Kein Wunder, sie ist manchmal nur 4 Stunden am Tag Zuhause - das muss reichen, um sich waschen, Wäsche zu waschen, vier kleine Welpen bei ihr daheim zu versorgen und etwas zu schlafen. So geht es schon drei Wochen lang.

Ich bewundere die zwei! Sie sind Helden! Was Aleksey auf seinen Schultern trägt, das kann kein Mensch normalerweise ertragen. Er ist stark, willensstark und trotz wenig Schlaf, weiß er genau, welcher Hund, welche Medikamente und in welcher Dosis er sie bekommt. Er weiß, wie es dem einen oder anderem Hund gestern ging, ob sein Zustand sich verändert hat – er kennt alle seine Patienten. Und auch Tatjana verdient eine Tapferkeitsmedaille, denn der Anblick der Hunde ist mehr als traurig und belastend.

Fünfundsiebzig erkrankte Hunde benötigen Hilfe Tag und Nacht

Fünfundsiebzig Hunde! Ja, genau, fünfundsiebzig Hunde hat die Staupe in unserem Tierheim getroffen. Alles begann mit zwei Welpen, die Aleksey auf der Straße und eine Woche später noch weiteren von der Station der Traurigkeit aufgenommen hat. Zum Glück, oder zum Dank der Wissenschaft, nicht alle hart! Ja, der größte Teil ist sogar schon geimpft gewesen, aber spätestens seit Covid wissen wir doch alle, dass Viren mutieren, und Illusionen müssen wir uns nicht machen, denn der Impfstoff wird nicht so schnell angepasst. Staupe ist ja eher auch ein lokales Problem in Russland und anderen Osteuropäischen Ländern - die ganze Welt ist davon (zum Glück) nicht betroffen.
Als ich angekommen bin, war es „nur“ noch die Hälfte der Tiere, die krank waren und die kritischen Hunde mit schwerem Verlauf konnten von zwei Zimmern in einen Raum übersiedeln. Aber auch das war eine Zahl, die uns jeden Tag von Mittag bis früh in die Morgenstunden auf Trab gehalten hat. Infusionen, Antibiotika, Vitamine, Probiotika - und immer wieder musste Nachschub her. Wir haben Moskau kontaktiert, Kransodar, alle örtlichen Apotheken - Nachschub, der dringend erforderlich war musste angefordert werden und ein Tag ohne Medikamente konnte wieder ein Hundeleben kosten.
Oft haben mich Menschen angeschrieben, die sauer, oder enttäuscht waren – zum Beispiel darüber, dass ich nicht sofort antworte auf Nachrichten, dass ich nichts von Russland und dem Tierheim berichte oder etwas schreibe zu dem Album, das wir so liebevoll und in Windeseile für Aleksey und Tatjana fertig gemacht haben. Ich kann euch so gut verstehen und vielleicht klingt es in manchen Ohren auch egoistisch, aber ich wollte meine 4 Stunden Schlaf und ich habe diese auch für Aleksey und Tatjana gewünscht. Natürlich haben die Beiden das Album gesehen und natürlich haben sie sich sehr darüber gefreut. Aber jeder Ablauf und jede Minute war wichtig und für eigene Emotionen und eigene Freude fehlte die Zeit und die Kraft. Ich bin mir ziemlich sicher, dass beide bei einem weniger stressigem Abend im Herbst bei einer Tasse Kaffee oder Tee sich gerne einmal gemütlich mit Hunden im Arm hinsetzen und all eure Fotos und Briefe lesen und sich von ganzem Herzen darüber freuen werden - Freude über jede Fellnase, die den Weg ins Glück geschafft hat.

Staupe macht gerade vor kleinen kuscheligen Welpen nicht Halt

Dieser Teil meiner Reisebeschreibung ist nun wirklich sehr emotional und traurig. Ich weiß nicht, ob ich euch und mir es antun will – aber auch das ist die Realität meiner Reise. Staupe ist ein Virus, ein ziemlich kluger Virus, der alles um sich herum greift und es vernichtet. Ein erwachsener geimpfter Hund hat gute Chancen, den Virus dazu zu bringen, den Rückzug anzutreten, ein Welpe ohne Impfung überlebt ihn nur, wenn ein Wunder passiert. Es ist fast aussichtlos. Du weißt es! Du behandelst einen Welpen, gibst deine letzte Kraft, das teuerste Medikament, all deine Liebe und Zuneigung. Du gibst deine Zeit, obwohl du das Gefühl hast, die reicht dir nicht um bis zum Bett zu kommen und du weißt das dieser süße, naive und liebenswerte Welpe höchstwahrscheinlich stirbt. Du schaust in die (noch) fröhlichen Kinderaugen, wenn der Welpe was Leckeres bekommt, wenn er sich an dich kuschelt und du weißt, er wird wahrscheinlich sterben. Er wehrt sich noch gegen die Behandlung, er weint bei der Spritze, beißt, will nicht stundenlang unter der Infusion liegen. Und dann kommt der Tag, wo er kein Leckerli mehr annimmt, wo es ihm egal ist, dass du ihm Spritzen setzt. Sein Körper wirkt schlaff, wenn du ihn hebst, er trocknet langsam aus.
Dann kommen die ersten Ticks, die ersten Anfälle, die so täuschend ähnlich wie Epilepsie sind. Er schaut nicht mehr böse, wenn du ihn behandelst, nein! Er schleppt sich zu dir und schaut dich bettelnd an! Diese Augen werden erwachsen und betteln nach Hilfe! Das ist der schlimmste Moment, denn du weißt, jetzt gibt es keine Hilfe mehr - sie gibt es einfach nicht, sie hat noch keiner erfunden. Du willst zum Himmel schreien und manchmal schreist du auch! Aber es gibt keine Lösung. Am nächsten Tag ist alles vorbei. Die Anfälle hören gar nicht mehr auf. Die Körpertemperatur sinkt, es hilft nichts mehr. Du bereitest langsam die letzten Spritzen vor. Manche Pelzkinder gehen schon davor über die Regenbogenbrücke, manche nehmen die Spritze noch mit und erfahren dadurch Gnade. Du nimmst Abschied! Das letzte Mal, wenn das Feuer den kleinen, geschwächten Körper voller starker Viren umarmt. Du lässt ihn gehen, den kleinen Welpen, der nur so wenig Gutes in seinem Leben gesehen hat und noch so viel hätte erleben können.

Manchmal denkst du, du hast alles gesehen, und dann kommt eine Situation, die sogar Aleksey bringt um Fassung zu ringen. So hat es ganz hart ein Welpenmädchen erwischt. Sie hatte Staupe und Enteritis und als sie sich erleichtern wollte, ist ihr ca. 20 cm Darm rausgefallen. Was tun in dieser Situation! Telefonisch war kein Arzt zu erreichen, zur Vetklinik lohnt sich nicht zu fahren, es werden keine Hunde mit Staupe und Enteritis aufgenommen. Es bleibt nichts übrig, als den Welpen unter Narkose zu setzen und den Darm wieder einfügen. Es ging dem Welpen noch 4 Tage gut, aber dann hat die Staupe doch gewonnen.

Auch zwei erwachsene Hunde hat es diesmal getroffen - unsere liebe Hunde-Mami mit vier gebrochenen Beinen und eine Hündin mit nur einem Auge in der Pflegestelle. Tja… hier weiß ich gerade nicht mehr, was ich schreiben soll.

Es gibt auch Hoffnung und etwas Glück: wir konnten einige Hunde retten

Vielleicht die guten Momente beschreiben?! Gut ist, bzw. Glück ist, wenn ein Welpe endlich wieder Durst bekommt, vielleicht sogar auch Appetit und endlich frisst – er trinkt gierig die Brühe mit etwas Fleisch, die du jeden Tag kochst in der Hoffnung, dass die Hunde diesmal essen. Glück ist, wenn eine kleine Pfütze entsteht und ein gesundes Häufchen gemacht wird. Glück ist, wenn du sehr zaghaft, fast unbemerkt anfängst dich zu freuen und hast Angst, dass diese Hoffnung falsch gedeutet wurde. Du betrachtest diese Hunde wie ein teures Porzellan und hoffst und hoffst und hoffst… Natürlich wird diese Hoffnung mit weiteren intensiven Behandlungen begleitet, ohne diese geht es nicht.

Aber elf Hunde haben wir dieses Mal leider nicht gerettet - im Gegenteil, ich habe die Hündin, die mein Herz bis zur letzten Faser erobert hat, selbst eingeschläfert. Ich habe mit Aleksey und Tatjana insgesamt vier Mal Pause gemacht – vielleicht jeweils 30 Minuten, Eis und Wassermelone, die unsere Kleinsten mit gemampft haben.

War das Urlaub? Nein! Aber den hat Aleksey seit 19 Jahren und Tatjana auch schon lange nicht mehr gehabt. Bereue ich es? Für nichts auf der Welt würde ich es anders machen. Das ist Leben, das ist Kampf, das ist Schmerz und das ist Freude. Das ist die Auseinandersetzung mit der Umwelt, das ist unbeschreiblich und unvergesslich.

Aleksey ich neige meinen Kopf vor dir, vor deinem Mut, deiner Liebe zu allen bedürftigen Geschöpfen! Tatjana ich bewundere deine Kraft, deine unnachahmliche Art und deine Treue!

Ich danke euch, IHR lieben Menschen!

Video(s)

(falls für diesen Bericht verfügbar)